NRWlebt.: Anders leben in der Stadt

Es war ein viel diskutiertes Thema, das sich die Architektenkammer Nordrhein-Westfalen für ihre sechste „NRWlebt.“-Veranstaltung vorgenommen hatte. Aber auch eines, das die Menschen bewegt und auf das es keine abschließenden Antworten geben kann, sondern nur Erfahrungen, Praxisprojekte und Prognosen: „Anders leben in der Stadt“ lautete der Titel der jüngsten Ausgabe der Aktionsplattform „NRWlebt.“, und er lockte fast 200 Teilnehmer auf das Gelände der Jahrhunderthalle in Bochum. „Es ist nicht leicht, echte Innovation für Wohn- und Arbeitswelten in der Stadt zu beschreiben“, erklärte AKNW-Vizepräsident Klaus Brüggenolte einführend. „Aber es gibt viele kleine und große Ideen und Projekte, die Vorbildcharakter entfalten können.“

23. Mai 2016von Christof Rose

Dazu zählten zwei Projekte, die im Rahmen der Veranstaltung vorgestellt wurden. Als sozial anspruchsvoll, baulich gelungen und städtebaulich einen Gewinn hatte die Jury des Auszeichnungsverfahrens „NRWlebt. - Anders. Neu. Originell“ aus einer Auswahl von 15 für das Verfahren vorgeschlagenen Objekten die Dreifaltigkeitskirche in Münster ausgewählt. Ziel des Projektes der Wohn + Stadtbau Münster war es, eine attraktive Mischung von Wohnen und Arbeiten in zentraler Quartierslage zu ermöglichen und zugleich eine Kirche mit stadtbildprägender Wirkung zu erhalten. „Wir wollten ein modernes Wohn- und Geschäftshaus schaffen, ohne die Kirche zu zerhacken“, erläuterte Architekt Jörg Preckel von Pfeiffer Ellermann Preckel Architekten und Stadtplaner aus Münster. Um die Baukosten niedrig zu halten, wurde vielfach mit einfachen oder standardisierten Baumaterialien gearbeitet. „Das Projekt ist auch ein soziales Experiment, weil im Erdgeschoss Wohnungen für ehemalige Obdachlose und für Menschen mit Suchtproblematik entstehen sollten“, beschrieb Sandra Wehrmann, Geschäftsführerin der Wohn- und Stadtbau Münster, die Herausforderung. Das Vorhaben gelang - und wird viel bestaunt, auch wegen der moderaten Baukosten. Jörg Preckel: „Wohnungsbau für 1200 €/m2 - das geht!“

Megatrends für die Stadt

Das Zusammenführen verschiedener Mieterschichten, die Mischung von Jung und Alt und der Anspruch, ohne Barrieren nicht nur Wohnen, sondern sich auch im Stadtteil bewegen zu können - das waren auch Essentials in dem Vortrag von Oona Horx-Strathern. Die irisch-stämmige Zukunftsforscherin, die mit ihrem Mann Matthias Horx in Wien in einem experimentellen „Zukunftshaus“ lebt und ein „Zukunftsinstitut“ betreibt, beschrieb zwölf „Mega-Trends“, die unser Leben in der Stadt in den nächsten Jahrzehnten aller Voraussicht nach prägen werden. Darunter die Alterung unserer Gesellschaft - wobei heute jede Generation der „Silver Ager“ im Durchschnitt sieben Jahre jünger sei als die vorherige. „Unser Wohlbefinden und unsere Zufriedenheit steigt nach der mittleren Lebensphase an“, hatten die Zukunftsforscher in Umfragen herausgefunden. Entsprechend müsse man heute Wohnungen planen, die klein sind, aber Individualität erlauben. Denn nicht nur die „jungen Alten“ sind eine wachsende urbane Gruppe, sondern auch die Singles: 2050 werden wohl mehr als die Hälfte der Stadtbewohner alleine leben. „Der Trend zur Individualisierung  ist ungebrochen“, so Oona Horx-Strathern. „Es kommen dafür aber immer neue Lebensformen hinzu.“ Das gelte für Beziehungen („living together apart“), das gelte für die Arbeit („home office“, Teilzeit, flexible Büros), das gelte für Kinder- und Pflegearbeit.

Bochum zeigt Mut

Praktische Beispiele für die (stadt-)planerische Reaktion auf diese Megatrends zeigte Eckart Kröck auf. Der Leiter des Bochumer Stadtplanungs- und Bauordnungsamtes stellte einige Leitprojekte vor, mit der sich Bochum zukunftsfähig aufstellen wolle. Da böten die „Claudiushöfe“ ein zeitgemäßes Angebot für die Mischung von Wohnen und Arbeiten, und zwar auch für Menschen mit Behinderungen. „Hier wird das Miteinander gefordert und gefördert“, so Stadtplaner Kröck. Auch das Projekt „Marienkirche“, wo ein neues Musik- und Veranstaltungszentrum inmitten zentralstädtischer Bebauung und unter Erhalt einer markanten Kirche entstehe, oder das „Exzenterhaus“ (Wohnen auf einem Bunker) zeigten den Weg in die Zukunft. „Wir brauchen neue Ansätze, Mut und Offenheit“, appellierte Eckart Kröck an die Zunft.

Öffentlicher Raum zum Feiern und Protestieren

Ähnlich sah auch Friedhelm Terfrüchte seine Botschaft. Der Essener Landschaftsarchitekt analysierte in seinem Vortrag die Funktion des öffentlichen Raumes und von Grünzonen für die Lebensqualität in einer Stadt. „Der öffentliche Raum hat die Aufgabe, Gemeinschaft zu stiften - aber auch, öffentlich Streit auszutragen“, wies Terfrüchte anhand zahlreicher Praxisbeispiele nach. Wichtig sei es, dass alle gesellschaftlichen Gruppen Zutritt und Rechte für die Nutzung des öffentlichen Raumes hätten. „Das müssen wir aktiv einfordern und bewusst pflegen, denn wir sehen überall gegenläufige Tendenzen“, warnte Terfrüchte, der mit seinem Büro DTP Landschaftsarchitekten in Essen viele große Freiräume im Ruhrgebiet neu für eine breite Öffentlichkeit attraktiviert und zahlreiche neue Projekte realisiert hat.

Terfrüchte wagte einige Prognosen: So werde die politische Funktion des öffentlichen Raumes wieder stärker werden; Freiflächen müssten künftig verstärkt zur Klimaresilienz unserer Agglomerationen beitragen; und nicht zuletzt deshalb werde die „5. Fassade“, also das Dach, künftig eine viel größere Bedeutung als aktive Nutzungsfläche erhalten als heute.

„Tausche Bildung für Wohnen“

Die soziale Dimension der Frage, wie wir künftig in der Stadt leben und arbeiten werden, illustrierte abschließend Christine Bleks vom Verein „Tausche Bildung für Wohnen e.V.“ in Duisburg. Der Verein bietet Studenten kostenlosen Wohnraum an, wenn sie sich verpflichten, dafür Kindern aus bildungsfernen Schichten nachmittags als „Bildungspaten“ zur Verfügung zu stehen. Hausaufgabenbetreuung, aktives Spielen und Lernen, Ausflüge und Aktionen: „Das Modell ist für alle Beteiligten eine Bereicherung“, resümierte die Vereinsvorsitzende und Initiatorin Christine Bleks nach einer Projektlaufzeit von etwa zwei Jahren. Aktuell konnten sogar auch Flüchtlingskinder in die Betreuung integriert werden - u. a., weil nun auch Senioren als Bildungspaten in das Projekt eingestiegen sind. „Ich bin sicher, dass man unser Projekt auch auf andere Städte übertragen kann“, erklärte Christine Bleks. Das Modell rechne sich auch für die Gesellschaft: Nach dem Bildungs- und Teilhabegesetz können bestimmte Betreuungskosten erstattet werden; zugleich erführen benachteiligte Stadtteile eine Aufwertung, wenn junge Leute, Studentinnen und Studenten, hier wieder einzögen.

www.nrw-lebt.de

„NRWlebt. - Planen und Bauen im demografischen Wandel“ ist eine Aktionsplattform der Architektenkammer Nordrhein-Westfalen, die auch neue Wege gehen will und die vor allem Fachleute und Bürger in einen lebendigen Austausch bringen möchte. Die Veranstaltung im Gasgebläsehaus und der abendliche Austausch im benachbarten Pumpenhaus der Jahrhunderthalle bewiesen, dass das Interesse auf beiden Seiten groß ist. Die Beiträge zu dem Auszeichnungsverfahren „NRWlebt. - Anders. Neu. Originell.“ finden Sie demnächst - zusammen mit vielen weiteren Beiträgen und Objektbeispielen - auf der Internet-Aktionsplattform www.nrw-lebt.de.

Vorträge

Eckart Kröck: Statement der Stadt Bochum (PDF)

Oona Horx-Strathern: Die Megatrends in der Stadt. Wie wohnen, arbeiten und leben wir in der Stadt von morgen? (PDF - 10 MB!)

Sandra Wehrmann, Jörg Preckel: Umbau der Dreifaltigkeitskirche, Münster (PDF)

Christine Bleks: Tausche Bildung für Wohnen e. V. (PDF)

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