Architektenkongress: Megacity, Ghosttown und Suburbia - Dokumentation Teil 1
Megacities sind Teil unserer planetarischen Zukunft. Schon heute gibt es rund 30 dieser urbanen Agglomerationen von mehr als 10 Millionen Einwohnern, die meisten davon in Asien. Das Phänomen Megacity ist jedoch nur die Spitze eines globalen Verstädterungsprozesses: Lebten 1950 noch 30 Prozent der Erdbevölkerung in Städten, so prognostizieren die Vereinten Nationen spätestens für 2050 rund zwei Drittel, mehr als 6 Milliarden. Die Verstädterung betrifft auch Europa und nicht zuletzt Deutschland, wo ihr Gegenstück in einem Schrumpfungsprozess vor allem auf dem Land besteht, der nicht weniger einschneidende Wirkungen hat. Wachstum und Schrumpfung unserer Städte - wenige Themen bieten ähnlich viel Raum für Visionen positiver oder negativer Art, und wenige Themen sind dabei von vergleichbar hoher politischer Brisanz.
Die Ursachen für die Wachstumsprozesse (von der Globalisierung über Krieg bis zu Geburtenraten) sind komplex und tief greifend. Umso notwendiger ist es, so Ernst Uhing, der Präsident der Architektenkammer in seiner Begrüßung zum Internationalen Architektenkongress der Architektenkammer NRW am 5. Mai 2016 in Usedom, sich gemeinsam, im Austausch unterschiedlicher Disziplinen, darüber Gedanken zu machen, wie diese urbanen Prozesse zu steuern und aktiv zu gestalten sind. Gerade ein Land wie Nordrhein-Westfalen sei dazu aufgerufen. Kein Bundesland, so Uhing, sei mit der Gleichzeitigkeit und Doppelgesichtigkeit des Prozesses stärker konfrontiert als NRW.
Die solidarische Stadt
Bauminister Michael Groschek unterstrich die soziale Dimension der gegenwärtigen urbanen Wachstumsprozesse - an beiden Enden der sozialen Leiter. 850 Millionen Menschen leben heute in Favelas, in wenigen Jahren, so der Minister, werden es 2,5 Milliarden Menschen sein. Andererseits sei heute 15 Prozent des weltweiten Immobilienkapitals in London angesiedelt. Vielfach habe die Grundstückspekulation die Wohnungsbaupolitik ersetzt, steuerliche Mechanismen, so Nordrhein-Westfalens Bauminister, fehlten, um einer Überhitzung des Immobiliensektors entgegenzuwirken.
Aus Sicht des Ministers für Bauen, Wohnen, Stadtentwicklung und Verkehr spielen eine soziale Baupolitik und der soziale Wohnungsbau jedoch auch eine wichtige Rolle für eine breitgefasste Integration. Eine solche Politik wirke einer „Heimatlosigkeit“ entgegen, die mit ein Grund für das Erstarken rechter Parteien sei. In NRW gelte es zu erproben, wie ein sozial ausgerichteter Städtebau heute aussehen könne: Sei es durch die Erleichterung von Eigentumsbildung, sei es durch experimentierfreudiges Bauen, durch ein Bauen auch in der Vertikalen (das nicht notwendigerweise auf den Luxusbereich beschränkt bleiben müsse), oder durch ein Denken, welches das Umland der Städte stärker in die Planungen einbeziehe. Sein Ministerium bereite derzeit einen Metropolenwettbewerb vor, der neue Perspektiven für das Zusammenspiel von Arbeiten, Wohnen, Leben in größeren räumlichen Zusammenhängen biete, erklärte NRW-Bauminister Groschek. Insgesamt bräuchten wir als Leitplanken nachhaltiger Stadtentwicklung neben „ökologischer Verantwortung und ökonomischer Vernunft mehr denn je Solidarität“.
Die fragmentierte Stadt
Südamerika und hier vor allem Brasilien, wo der Verstädterungsprozess bereits vergleichsweise früh eingesetzt hat, bieten, so der Geograph Martin Coy, besonders reiches Anschauungsmaterial für urbane Negativ- wie für Positiventwicklungen. In dem Land der letzten Fußball-WM und in diesem Sommer der Olympischen Spiele, in welchem neue Stadien lediglich architektonische Aushängeschilder seien und nach wie vor dramatische soziale Gegensätze das Stadtbild prägen, leben 84 Prozent der Menschen in Städten. Insbesondere die Metropole São Paulo biete das Bild einer „fragmentierten Stadt“, in der „Inseln des Reichtums“ innerhalb eines degradierten öffentlichen Raums, eines „Ozeans der Armut“, fungierten, beschrieb der Professor vom Institut für Geographie der Universität Innsbruck die Situation. Hinzu komme eine ausgeprägte „Festivalisierung der Stadt“.
Aber Prof. Coy sah auch Hinweise auf positive Alternativen: So habe Brasilien schon vor längerem hohe Grundsteuern auf ungenutzte Parzellen eingeführt und neue planerische Instrumente entwickelt. In São Paulo wurde ein strategischer Masterplan geschrieben, in dem auch partizipative Elemente integriert worden seien. Wenn sich diese Ansätze noch nicht im erhofften Maße durchgesetzt haben, so zeigt dies nach Auffassung von Prof. Dr. Martin Coy, wie wichtig die Formulierung gesetzlicher Regelungen gegenüber marktliberalen Tendenzen sei. Das Thema der Zukunft sei gerade in Südamerika das eines erfolgreichen „Gouvernance“-Prozesses.
Die fiktionale Stadt
Städte waren schon immer Projektionsfläche utopischer Vorstellungen. Ob und inwiefern sich daraus konkrete Hinweise für die Stadtpolitik ergeben, war die Aufgabenstellung des Projekts „Sci-Fi-Cities“, der ein interdisziplinäres Team um die Stadtplanerin Prof. Dr. Silke Weidner nachgegangen ist. Das Team analysierte Filme, Bücher, Comics und Spiele der letzten 30 Jahre nach allen Regeln wissenschaftlicher Methodik, um sie auf Gehalte für die reale Zukunft der Stadt abzuklopfen.
Die Ergebnisse: Negativvisionen entmenschlichter und ruinierter Städte, in denen wie in Silverbergs Film „The world inside“ die Menschen ihre Hochhauswohnungen lebenslang nicht verlassen, der Verkehr in unterirdischen Röhren läuft und die Eliten (wie im Film „Elysium“ von Neill Blokamp, 2013) bereits in einer Raumstation leben, während der Rest der Menschheit auf einer überbevölkerten Erde vegetiert. Im Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit, so Silke Weidner, seien jedoch weniger die konkreten, meist auf die technischen Aspekte reduzierten Ableitungen interessant, sondern die in Handlungen eingebetteten Visionen, die uns fühlen lassen, wie es sich möglicherweise in einer vielleicht nicht allzu romantischen Zukunft auf der Erde leben wird.
Grüne Strahlen
Europa ist in urbaner Hinsicht keine Insel der Seligen, aber es bietet vielleicht mehr als andere Gegenden der Welt Anschauungsmaterial für eine nachhaltige Metropolenentwicklung. Der in Duisburg und Mailand tätigte Landschaftsarchitekt Dr. Andreas Kipar machte am Beispiel der Metropolregion Mailand den Beitrag deutlich, den seine Zunft in einer Region leisten kann, in der heute 20 Millionen Menschen leben und 40 Prozent des italienischen Bruttosozialbeitrags erwirtschaftet wird.
Kipar konnte die Verantwortlichen in Mailand von neuen ‚grünen’ Flächennutzungsplänen überzeugen. Neues Grün entstand auf Flächen, auf denen ehemals Fiat, Maserati und Alfa Romeo ihre Sehnsuchtsobjekte produzierten. Sein Büro LAND (Landscape, Architecture, Nature and Development) entwickelte Grünanlagen, die als „raggi verdi“ vom Zentrum aus ins Umland strahlen. Es ist das alte Prinzip der Sichtachsen, die (auf den Städtebau übertragen) lokale Stadträume wieder erlebbar machen und damit eine humane Stadtentwicklung ermöglicht haben. Gerade die verdichtete Stadt, so Andreas Kipar, mache grüne öffentliche Räume notwendig.
Die Idee macht Schule. Für die Stadt Essen, die für 2017 von der Unesco als „Official Green Capital“ benannt wurde, entwickelt das Büro derzeit Konzepte einer großräumigen Weiterentwicklung bestehender grünblauer ‚Bänder’, die von der Emscher bis zum Baldeney-See reichen werden.
Strategien der nachhaltigen Entwicklung
Sollen wir unseren Gebäudebestand angesichts des Klimawandels in Richtung „green buildings“ umbauen? Die Politik auch hierzulande setzt darauf. Im Hinblick auf das Weltklima, so Prof. Dr. Dr. Franz Josef Radermacher vom Institut für anwendungsorientierte Wissensverarbeitung der Universität Ulm, sei die Fokussierung der CO2-Emissions-Reduktion auf den Gebäudebestand jedoch weitgehend irrelevant. Im Sinn der Effizienz wäre eine Weiterentwicklung umweltfreundlicher Technologien, deren gegenwärtiger Stand für die Lösung der Aufgaben nicht ausreiche, viel sinnvoller und dringlicher. Die Politik setze gegenwärtig falsche Prioritäten. Radermacher betonte, dass das Prinzip Nachhaltigkeit durch die Weiterentwicklung technischer Innovationen grundsätzlich möglich sei - unter der Voraussetzung allerdings einer von Kooperationen getragenen gemeinsamen Weltinnenpolitik. Diese aber sei angesichts des Konsumverhaltens der Industriegesellschaften und eines zunehmend entgrenzten digitalen Kapitalismus unwahrscheinlich.
Was angesichts dieser Diskrepanz zu tun bleibt, ist nach Radermacher eine Art situative Doppelstrategie. Sie besteht darin, die Strukturen zu beschreiben, also nicht zu lügen, und in kleinen Schritten und zur Not auch mit weniger sinnvollen Aktionen zu agieren. Dafür aber mit der Unterstützung möglichst vieler Verbündeter.
Der zweite Teil des Kongress-Berichtes erfolgt in Kürze hier und in der Juli-Ausgabe des DAB NRW-Teils.
Lesen Sie hierzu auch folgenden Bericht
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