Auszeichnungsverfahren "NRWlebt.": Anders arbeiten, wohnen und leben

In Berlin-Mitte, direkt am Ufer der Spree, wohnen seit kurzem etwa 100 Erwachsene und 30 Kinder in drei neuen, miteinander verbundenen 8-stöckigen Gebäuden. Alle drei Bauten öffnen sich im Erdgeschoss mit Ateliers, Waschsalon, Jugendraum sowie einer Kita zur Umgebung. Ein großer "Optionsraum" in jedem der Häuser bietet Möglichkeit für verschiedene gemeinschaftliche Aktivitäten: "Küche und Mittagstisch", "Bewegung und Kunst" sowie "Werkstatt" lauten die Überschriften. Darüber verteilen sich 44 unterschiedliche große Wohnungen, darunter auch "Clusterwohnungen", die sich um einen Gemeinschaftsbereich aus Küche, Wohnzimmer und Terrasse gruppieren. Die Zuschnitte erlauben die Entwicklung verschiedener Formen von Wohngemeinschaften; sie lassen sich relativ einfach vergrößern, verkleinern oder zusammenzulegen – und damit auch sich verändernden familiären Verhältnissen anpassen. Das Gemeinschaftsprojekt "Spreefeld" setzt damit an einem Punkt an, an dem sich heute die Diskussionen um neue Wohnformen drehen: Den Gegensatz von Individualität und Gemeinschaft wenn nicht aufzuheben, so doch möglichst flexibel zu versöhnen.

19. November 2015von Dr. Frank Maier-Solgk

Im Rahmen ihrer Aktionsplattform "NRWlebt." hat die Architektenkammer Nordrhein-Westfalen jetzt ein Auszeichnungsverfahren initiiert, mit dem solche und ähnliche Projekte in NRW gefunden, ausgezeichnet und einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht werden sollen. Unter dem Titel "NRWlebt. - Anders. Neu. Originell" sind Kammermitglieder und Bauherren aufgerufen, Beispiele für bauliche Lösungen für neue Lebensformen einzureichen.

Die Architektenkammer erhofft sich, neue Beispiele auch in NRW zu entdecken, welche die Vielfalt neuer und origineller städtischer oder stadtnaher Lebenskonzepte darstellen und Perspektiven eröffnen. Der Oberbegriff lautet Leben, worin ausdrücklich Wohn-,  Arbeits- und Freizeitformen, möglicherweise auch landwirtschaftliche Formen mit eingeschlossen sind. Gesucht werden soziale Projekte, Gemeinschaftsprojekte, im Einzelfall auch noch nicht realisierte Konzepte, innovative Formen der Umnutzung oder auch auf die heutige Situation angemessene Neubauprojekte, wie die neuerdings wieder stärker diskutierten vertikalen Wohnformen.

Spreefeld Berlin: Wohnen mit Optionen

Initiator des Projekts ist eine genossenschaftlich organisierte Gruppe (Spreefeld Berlin eG) von 90 Anteilseignern, der es gelang, die Kosten mit ca. 2100 Euro pro Quadratmetern deutlich geringer zu halten als im Umfeld. Ein Teil der Bewohner konnten seine Anteile über KfW-Kredite finanzieren.

Das Spreefeld-Projekt ist eines von einer zunehmenden Zahl an Gemeinschaftsprojekten, die vor allem vom gängigen Drei-Zimmer-Küche-Bad-Schema abweichen; einem Schema, das zwar auf die Masse auch der Neubauten in Wohnungsbereich noch zutrifft, dabei vielen Ansprüchen aber nicht mehr gerecht wird. Die Bedürfnisse nach individuelleren, nach flexibleren, gemeinschaftlichen und kostengünstigen Wohnformen finden jedenfalls in den Ballungsräumen der Städte kaum noch passende Angebote. Das Wohnungsangebot hinkt diesen gesellschaftlichen Entwicklungen hinterher, wobei die Wünsche um so heterogener werden, je heterogener die Gesellschaft selbst wird: Für Single-Haushalte, Studierende, Senioren, die in Gemeinschaften leben wollen, generationenübergreifende Gruppen, Projektgruppen, die Wohnen- und Arbeiten zu verbinden suchen, für diese heute nicht ausschließlich auf alternative Milieus begrenzten Gruppen ist das Angebot der klassischen Dreizimmerwohnung keine wirkliche Option mehr.

"wagnisART" in München für bunte Lebensentwürfe

München: wagnisART ("wagnis" steht für "Wohnen und Arbeiten in Gemeinschaft, nachbarschaftlich, innovativ und selbstbestimmt") ist eine Genossenschaft. Derzeit entwickelt sie im Norden Schwabings auf dem Gelände einer ehemaligen Kaserne, die anschließend als Künstlerdorf genutzt wurde, auf
10 000 m2 in fünf Häusern 140 Wohnungen. Für 2016 ist die Fertigstellung geplant.

Wohnungen, das bedeutet in diesem Fall ebenfalls nicht Uniformität, sondern die Umsetzung eines bunt aufgefächerten Lebensentwurfs, zu dem etwa gehören: acht Wohn-Cluster mit 53 Apartments, Künstler-Cluster, ARTrefugio, Ateliers, Praxisräume, Büros, Speisecafé, Veranstaltungsraum, Gemeinschaftsräume, Werkstätten, Waschcafé, Nähstube, Toberaum, Proberäume, Gäste-Apartments, Gemeinschaftsdachgärten, Gemeinschaftsterrassen und -brücken, ein Dorfplatz und ein Oasenhof.

Nicht immer muss neu gebaut werden, um die passende Antwort auf den speziellen Bedarf zu finden. Manchmal liegt die Lösung heute auch nur darin, unterschiedliche soziale Gruppen miteinander in Kontakt miteinander zu bringen, wie es das Projekt "Wohnen für Hilfe" in Bezug auf Studenten und Senioren erreicht hat. Mitte der Neunzigerjahre entwickelt, hat sich die Idee  inzwischen in zahlreichen Universitätsstädten etabliert, da beide Gruppen davon profitieren. Das einfache Prinzip lautet: 1 m2 Wohnfläche = 1 Stunde Hilfeleistung im Monat. Studierende können hier kostengünstig bei Seniorinnen und Senioren wohnen; als Gegenleistung helfen sie den älteren Menschen, indem sie ihnen bei den Dingen des täglichen Lebens zur Hand gehen.

Neue Wohn- und Arbeitsprojekte als Ausgangspunkt

Oft sind von den Mitgliedern der Gruppen gemeinsam geteilte gesellschaftliche Ziele und Ideen der Ursprung der neuen Wohn- und Arbeitsprojekte. Schon beim oben erwähnten "Spreefeld" in Berlin ging es den Beteiligten zunächst um den  Erhalt des Spreeufers als öffentlich zugänglichem Raum.

Der im Norden Berlins beheimatete und 2004 gegründete gemeinnützige Verein "StadtGut Blankenfelde" hatte sich vorgenommen, einen denkmalgeschützten ehemaligen Gutshof in Pankow vor dem Verfall zu retten. Der Verein sanierte das weiträumige Ensemble und schuf Lebens- und Arbeitsräume für Alt und Jung. Nachhaltigkeit, Naturschutz und gemeinschaftliches Arbeiten bilden die Grundlage für die dort entwickelten vielfältigen Aktivitäten. In den letzten zwei Jahren entstanden 27 Wohnungen und ein Gemeinschaftsraum. Der Saal im zugehörigen Kurhaus wurde nach den historischen Vorgaben umfassend erneuert. Ein bedeutender Teil der heutigen Nutzung auf dem Stadtgut stellt das generationsübergreifende Wohnen dar.

Noch sind solche Projekte nur sporadisch, nicht flächendeckend  anzutreffen. Ihre Größe reicht vom einzelnen Haus, das wie im Frankfurter Ostend ein Architektenehepaar für zehn Familien samt Gemeinschaftsraum gebaut hatte, über die Umnutzung von leer stehenden Büros zu Wohnungen wie im Fall des "wohnbüro offenbach" (offenes Projekt im Rahmen der Aktion "Aktive Innenstadt") bis hin zum ökologischen Dorfprojekt für 300 Menschen wie in Allmende in Ahrensburg-Wulfsdorf, vor den Toren Hamburgs. Die Realisierung hängt von vielen Voraussetzungen ab; Wohnungsbaugesellschaften oder Investoren sind an diesen unkonventionellen Wohnkonzepten und Wohnungstypen des hohen Aufwands wegen weniger interessiert. Genossenschaftliche Zusammenschlüsse dagegen und Vereine finden sich häufiger. Dennoch: In Zeiten, da Wohnen mehr denn je zu einem kostbaren Gut geworden ist und neue Wohnungsprogramme aufgelegt werden, die an der großen Zahl interessiert sind, ist es Zeit, daran zu erinnern, dass Flexibilität und Originalität sich im Wohnungsbau langfristig auszahlen können.

Wohnungen für Flüchtlinge

Neue Wohn-, Arbeits- und Lebensformen sind ein Spiegel der gesellschaftlichen Entwicklungen, könnten  oder sollten es sein. Dass sie dies in Zukunft noch stärker und deutlicher leisten, als es gegenwärtig der Fall ist, war ein Grund für die Architektenkammer Nordrhein-Westfalen, das Auszeichnungsverfahren mit dem Titel "NRWlebt. – Anders. Neu. Originell" auszuloben. Die Ausschreibung zielt im Untertitel auf "Konzepte für das Wohnen und Arbeiten in der Stadt", will aber auch das derzeit drängende gesellschaftliche Thema der Flüchtlingshilfe einbeziehen. Es zeichnet sich ab, dass die bisherige demografische Prognose eines drastischen Bevölkerungsrückgangs für Deutschland revidiert werden muss. Klar absehbar ist in jedem Fall schon jetzt der durch die Flüchtlingsbewegung wachsende Wohnungsbedarf.

Dass Wohnungen für 500 000 Menschen jährlich benötigt werden, scheint realistisch. NRW-Bauminister Michael Groschek sprach unlängst in Düsseldorf von einem aktuellen Bedarf von 100 000 Neubauwohnungen in NRW. Schneller Handlungsbedarf besteht, nicht zuletzt weil Flüchtlinge vor allem Großstädten zugewiesen werden, wo der Wohnraum ohnehin knapp ist. Ob angesichts dieser Situation auch bestehende Standards im Hinblick auf Technik, Lärmschutz  oder Energieverbrauch gesenkt werden sollten, ist umstritten. Als Erkenntnis aber zeichnet sich ab, dass trotz des großen aktuellen Bedarfs nicht die Fehler der 1970er-Jahre mit schablonenhaften Großsiedlungen außerhalb der Stadtgrenzen gemacht werden dürfen.

Kreative und flexible Lösungen sind gefragt

Flexibilität, der Blick auf den Bestand im Hinblick auf Nutzungsänderungen, die Umnutzung von Büros in Wohnungen zum Beispiel, scheint auch auf diesem Feld die bessere Alternative. Gleichgültig, ob (wie in einem Projekt Hannoveraner Studenten) in Zukunft das Wohnen auf Lastkähnen oder in Parkgaragen als Möglichkeit in Frage kommt - Phantasie und kreative Lösungen sind angesichts auch dieser gesellschaftlichen Ausnahmesituation besonders gefragt.

Die Architektenkammer NRW will diesen Prozess hin zu neuen originellen Lösungen fördern. Sie will mit aktuellen Beispielen dokumentieren, wie seitens der Bauherren, der Bürger und last not least der Architekten und Planer auf aktuelle gesellschaftliche Tendenzen und Trends mit neuen Lösungsvorschlägen reagiert wird. Daher trägt das Auszeichnungsverfahren den Titel "NRW lebt. – Anders. Neu. Originell."

Die Auslobungsunterlagen finden Sie auf www.nrw-lebt.de. Abgabeschluss für die Online-Einreichung ist der 11.01.16.

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